Die deutsche Heilbäderbranche ist ein touristisches Schwergewicht: Rund 350 Kurorte erwirtschaften zusammen jährlich rund 26 Milliarden Euro Umsatz. Das sind rund 10 Milliarden Euro mehr als TUI – der weltweit größte Reisekonzern – in seinem Kerngeschäft einnimmt. Die Kurorte sichern 350.000 Arbeitsplätze und generieren Wertschöpfung in vorwiegend ländlichen Regionen. Beinahe jede dritte Übernachtung in Deutschland ging 2010 auf ihr Konto. Eine Branche, in der die Welt noch in Ordnung ist, möchte man meinen.
Das war sie auch lange Zeit. Damals wurden Kassenpatienten von ihrer Krankenkasse noch scharenweise zur Vorsorgekur fernab des Wohnortes geschickt. Die Annehmlichkeiten der kurörtlichen Heilmittel wurden von der Solidargemeinschaft finanziert. Bis Ende des vergangenen Jahrhunderts war es ein klassischer Anbietermarkt, in dem sich Begehrlichkeit nicht unbedingt über die Leistungserbringung definierte, sondern über die Leistungserstattung der Sozialversicherungsträger. Zu dieser Zeit war es unnötig, sich über Markenbildung, Markenstrategien und Marketing Gedanken zu machen.
Die Kurorte waren auf den neuen Wettbewerb nicht vorbereitet
Doch der demografische Faktor, die Globalisierung der Gesundheitsdienstleistungen und andere unbeeinflussbare Umweltfaktoren stellten die Branche auf den Kopf. Die traditionelle Kassenkur erlebte einen rasanten Niedergang. In großem Umfang mussten Kliniken und Kurhotels schließen. Es traten neue Wettbewerber auf den Plan. Und der Kunde, der die Wohltat der Bäder und Massagen zu schätzen gelernt hatte, entdeckte attraktivere Gesundheitsparadiese jenseits der Kurorte. Auf diesen harten Wettbewerb, der plötzlich auf dem Megamarkt Gesundheit herrschte, war man nicht vorbereitet.
Wo stehen die Heilbäder heute? Noch immer, nach fast zwei Jahrzehnten des Wandels im Heilbäderwesen, hat sich kein einziges von ihnen als Destinations- oder Dienstleistungsmarke dauerhaft und erfolgreich etabliert. Ihr größtes Problem ist die „Macht der Gewohnheit“.
Statt sich dem Wettbewerb zu stellen, setzt die Branche, wenigstens vordergründig, große Hoffnungen auf ihre Lobbyisten. Diese werden nicht müde, in Appellen, Resolutionen und schriftlichen Erklärungen an Politik, Presse und Verbraucher die Leistungsfähigkeit und den individuellen und gesellschaftlichen Wert der Kur im Kurort zu beteuern. Jenseits jeden Realitätsbewusstseins fordern sie mehr Staat.
Die wenigsten Kurorte kennen und kommunizieren ihre Talente und Stärken
Mit Eigeninitiative, Markenbildung und Markenstrategien könnten Heilbäder eine relevante Position auf dem Gesundheitsmarkt besetzen. Aber wo sind sie, die überzeugenden Leuchtturmprojekte? Wo sind die attraktiven, beweisbaren Spitzenleistungen, die kommuniziert werden? Wo sind die spezialisierten Kurorte mit Markencharakter, die es schaffen, die Idee der Kur so attraktiv und wirkungsvoll aufzuladen, dass Krankenkassen an die kostensparende und vorbeugende Wirkung glauben – weil sie die Menschen anziehen, selbst wenn es keine Zuschüsse gibt?
Bis heute fehlen, bis auf wenige Ausnahmen, Destinationsstrategien – zum Beispiel Markenstrategien zum konsequenten Aufbau einer Nummer-Eins-Position. Die wenigsten Kurorte kennen und kommunizieren ihre Talente und Stärken oder entwickeln sie weiter, bis daraus ein Fundament an Werten entsteht. Nur wenigen Tourismusmanagern gelingt die Koordinierung und Vernetzung ihrer örtlichen Dienstleister mit dem Ziel, Therapiebausteine in „Aha-Erlebnisse“ zu verdichten und dadurch ihrem Ort ein unverwechselbares Profil zu verleihen.
Es gäbe zahlreiche Themen, die Kurorte besetzen könnten
Gute Themen, mit denen Heilbäder als Marken reüssieren könnten, gibt es viele: die Anzahl der Volkskrankheiten, die kulturellen Einflüsse aus Fernost und anderen Regionen der Welt oder die veränderten Lebensumstände der Menschen durch neue Lebensknappheiten – allen voran der Zeitmangel. Zum Beispiel die Diabetes, ein Markt mit aktuell 7 Millionen registrierten Diabetikern (und wahrscheinlich eben so vielen Menschen, die noch nichts davon wissen, aber zur Risikogruppe gehören). Wem fällt sofort ein Heilbad ein, das Spezialist für diese Stoffwechselerkrankung ist – ohne langes Nachdenken und ohne intensive Suche im Internet? Wer kennt eine Destination, die sich auf die besonderen Lebensumstände der Betroffenen spezialisiert hat, und zwar entlang der gesamten touristischen Dienstleistungskette? Eine Destination, die daraus Spitzenleistungen generiert und sie in eine entspannte Urlaubsatmosphäre zu betten weiß? Eine Destination, die ihre Kompetenz zu einem Markenwert verdichtet und diesen stildicht und glaubwürdig für das Marketing einsetzt?
Es braucht Wille und Ausdauer, um als Destination eine Nummer-Eins-Position einzunehmen und dauerhaft erfolgreich zu besetzen. Doch die Vorteile einer klaren Markenstrategie für Gesundheitsdestinationen liegen auf der Hand:
1. Sie sorgt für eine klare Positionierung mit Fokus auf Lebensstile und Lebensknappheiten. Das Risiko von Fehlinvestitionen wird begrenzt.
2. Die Fokussierung auf ein Thema schafft Attraktivität – bei potenziellen Gästen, aber auch bei möglichen Investoren und Geschäftspartnern, beispielsweise aus Wissenschaft und Forschung.
3. Die Effizienz und Effektivität im Marketing steigt. Denn attraktive Marken werden deutlich besser wahrgenommen und erinnert. Durch die Orientierung am Markenwert gelingt eine klare, unverwechselbare Stilistik und Kommunikation.
4. Menschen lieben attraktive Marken. Effekt: Solche Destinationsmarken sorgen für steigende Stammgästezahlen und erhöhen die Bereitschaft zur Weiterempfehlung – was sich wiederum positiv auf die Marketingkosten wirkt.
5. Investitionsstaus können sich auflösen. Neuinvestitionen können im Sinne der Markenpositionierung ausgeführt werden.
„Last but not least“ profitieren die Einwohner eines Kurortes direkt von der Marke: durch bessere Lebensverhältnisse und Wertsteigerungen von Grund und Boden.
Also, welcher der deutschen Kurorte macht den Anfang? Welcher wird im Megamarkt Gesundheit die attraktivste Gesundheitsdestination in Deutschland? Ich bin gespannt.
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