Professor Sloterdijk, welche Rolle spielen Marken in der gegenwärtigen Zeit? Mittlerweile kann man alles über das Internet recherchieren und erwerben – wozu braucht unsere Gesellschaft eigentlich noch Marken?
Peter Sloterdijk: Weil der menschliche Verstand so gearbeitet ist, dass er Haltepunkte sucht, um die natürliche Umwelt ruhigzustellen. Auch in einer Welt, die überwiegend aus künstlichen Objekten besteht, braucht er Orientierungshilfen, die der Funktion eines natürlichen Lexikons nahekommen.
Könnten Sie das bitte genauer erklären?
Peter Sloterdijk: Als Adam von Gott in die Mitte des Paradieses gesetzt wurde, bekam er bekanntlich das Privileg, den Dingen Namen zu geben. Gott schuf unbenannte Dinge, Adam erhielt das Vorrecht, ihnen als Schöpfungsassistent Namen zu geben. Alle herkömmlichen Sprachen auf der Erde besitzen adamistische Kernvokabulare: Tiernamen, Pflanzenennamen, Himmelskörpernamen, Namen für alle geschöpflichen Größen, schließlich auch Familien- und Völkernamen: Sie gehören zur ältesten Schicht der Sprache, in der die ersten Lexika gründen.
In dem Maße, wie die Zivilisationen fortschritten, machte die „Dämonie des Künstlichen“ sich zunehmend bemerkbar: Dinge, die nicht im ersten Schöpfungszyklus enthalten waren, sondern von Menschen hinzuerschaffen wurden, verlangten in immer größerer Zahl nach Benennung. So kann man sagen, der Mensch eröffnete eine zweite Schöpfungswoche – und stiftete damit auch eine zweite Serie von Namen.
Heute stellt sich uns die Frage, ob wir noch immer am ersten Tag der zweiten Woche existieren oder am Dienstag, vielleicht sogar schon am Mittwoch. Ich neige dazu, uns für Mittwochsmenschen zu halten. Wir leben bereits mit der dritten Generation von hinzuerschaffenden Künstlichkeiten. Zu Beginn hatten wir die einfachen Werkzeuge hervorgebracht, später kamen komplexere Artefakte hinzu. Gegenwärtig beobachten wir, wie Künstlichkeiten höherer Stufe auf die Bühne treten: Wir bauen die erste Natur um, wir manipulieren die Gene, wir spielen mit den kleinsten Bausteinen der Materie. Die herkömmlichen Sprachen können diesen Vorgängen nicht mehr folgen.
Und welche Aufgabe übernehmen in dieser Entwicklung die Marken?
Peter Sloterdijk: Mit den neu hinzugeschaffenen Dingen entsteht der Druck, ein zweites und drittes Lexikon zu erzeugen, weil die neuen Künstlichkeiten Namen brauchen. In diesem Zusammenhang kann man auf das Phänomen Marke zu sprechen kommen. Grundsätzlich wird eine Marke nur für eine Künstlichkeit kreiert, die in unsere Lebenswelt fest eingebaut werden soll: Es sind aparte Namen, die dafür kandidieren, in den Grundwortschatz der Zivilisation aufgenommen zu werden.
Marken sind also epigenetisch geschaffene Namen für Neu-Dinge, für Neuankömmlinge in unserer Welt, sachlich und sprachlich. Im 20. Jahrhundert konnte man an manchen besonders erfolgreichen Markenschöpfungen beobachten, dass sie nahezu den Rang von Ur-Gegenständen erreichen – als wären sie von Anfang an dabei gewesen. Es fehlt nur wenig, und wir könnten uns Adam mit der Coca-Cola-Flasche vorstellen oder Eva mit Chanel No. 5.
Unter den großen Automarken haben einige fast astralen Rang erreicht. Die erfolgreichsten unter den Markengeschöpfen heißen wie Himmelskörper, sie sind uns vertraut wie Sonne und Mond, sie haben nahezu den Status von Arten aus der Primärwelt.
Für dieses Universum an hinzuerfundenen Dingen und Entdeckungen brauchen wir also geeignete Namen. Und wenn es Waren sind, also Dinge, die von vorneherein für den Erwerb entworfen wurden, dann muss unweigerlich diese neue Kategorie der Markennamen auftauchen, die den alten Sprachen noch kaum bekannt war. Ich kenne im Altgriechischen keine Wörter, von denen man sagen könnte, sie hätten Objekte mit Markencharakter bezeichnet.
Bei den Römern gab es berühmte Weinsorten wie den Falerner, der als Kultwein so etwas wie Markenstatus erreichte. In Pompeji wurden handgeschriebene Speisetafeln ausgegraben, mit Preisangaben für die Weine diverser Herkunft – man weiß daher, dass der Falerner bis zu acht Mal teurer war als gewöhnliche Tropfen. Darin könnte man einen ersten Spross des Markenphänomens in der Antike sehen. Eine andere Vorform der Marke ist vielleicht die Münze, die das Bild des Imperators trug.
In welcher Epoche gewann die Marke dann an Bedeutung?
Peter Sloterdijk: Das Markenphänomen kommt in der beginnenden Neuzeit, in der Renaissance, zum Tragen, als sich zwischen Norditalien und Nordwesteuropa ein regelrechter Markt entwickelt hatte. Fände man Spuren von Marken aus dieser Zeit, es wären mit Sicherheit Herkunftsnamen von Luxuswaren. Freilich gab es schon in der Antike eine Nachfrage nach erlesenen Produkten wie Seide, Gewürzen, Perlen, Weihrauch usw. Jede dieser Raritäten hatte in der antiken Geografie einen eigenen Handelsweg, oft eine Karawanenstraße. Die alte Stadt Petra im heutigen Jordanien etwa war ein Knotenpunkt solcher Straßen. Ich könnte mir vorstellen, würde man dort tiefer graben, fände man Papyri mit den Namen von Herkunftsorten edlen Weihrauchs oder kostbarer Tücher.
Später waren Schwerter aus Damaskus zur Legende geworden – mit entsprechender Nachfrage. Bei den höchstwertigen Produkten bildete sich um den Herkunftsnamen eine Aura voller Versprechen. So entstanden die ersten Namen für mythische Waren, die in die allgemeinen Vokabulare eingingen. Manches davon wirkt bis heute.
Wie wirkt eine Marke auf den Menschen? Gibt es aus Ihrer Sicht einen Wirkmechanismus, den Marken und Religion gemeinsam haben?
Peter Sloterdijk: Das ist ohne Zweifel so, und zwar auf zwei Ebenen. Aus religionswissenschaftlicher Sicht kommt man zur Marke am besten von der Theorie des Amuletts her. Obendrein kann man sich dem Phänomen aus der Sicht einer allgemeinen Theorie der Prophezeiungen nähern.
Fürs Erste ist die Amulett-Analogie schlagend. Dabei ist zu bedenken, dass jedes hergestellte Ding von sich her eine auratische Einkleidung besitzt, wäre sie auch noch so bescheiden. Es ist eine moderne, irreführende Abstraktion, anzunehmen, dass es ganz auralose Objekte gäbe. Schauen Sie all diese Bücher um uns an – ich hätte nicht so viele davon in der Bibliothek, wenn das Buch nicht per se ein auratisches Objekt wäre, das bei einer Art von Mensch wie mir ein unersättliches Bedürfnis nach Aneignung hervorruft.
Waffen – um ein anderes Beispiel zu nennen – gehören ebenfalls zu den Objekten, die von den Menschen seit jeher stark animistisch aufgeladen wurden, und Reste dieser Empfindungsweise sind bis heute wirksam. An fast allen Dingen unserer artifiziellen Umwelt hängt ein gewisser Gralsfaktor, und wenn er tausendfach verdünnt ist. Das vollkommen entzauberte, restlos säkularisierte Objekt gibt es nicht. Deswegen kann man die meisten Dinge besser verstehen, wenn man sie im Lichte der Fetisch-Analyse betrachtet. Die bloße Produktbeschreibung fällt dagegen zurück. Tatsächlich sind Dinge nie nur sächliche Größen, sie sind immer auch mit einer gewissen animistischen Hülle bekleidet, sie sind mit Träumen und Lebensbedeutsamkeiten aufgeladen.
Die Klasse von Objekten, an der man das am deutlichsten ablesen kann, sind die Amulette. Auch heute fühlen sich manche Menschen schutzlos, wenn sie ihr Amulett am Morgen vergessen haben. Noch in der aufgeklärten Gesellschaft kommt dergleichen viel häufiger vor, als man gemeinhin annimmt. Ich weiß von einem bekannten Herzchirurgen, der vor einer Operation sein Amulett berührt – dergleichen Gesten sind noch immer weit verbreitet.
Entscheidend ist, auratische Dinge kann man nicht mit dem primitiven Funktionsbegriff begreifen. Sie erzeugen, über ihre deklarierte Funktion hinaus, Kraftfelder, Bedeutungsfelder, geschützte Räume. Ein Mensch, der sein Schweizer Taschenmesser obsessiv mit sich führt, tut das nicht notwendigerweise aus helvetischem Patriotismus. Er braucht auch nicht ständig sämtliche 24 Funktionen des Messerkunstwerks. Was er braucht, ist das Gefühl, dass das Objekt ihn ergänzt, indem er es dabeihat.
Kurzum, man muss einsehen, dass es weder auralose Dinge gibt noch Menschen ohne Accessoires. Man kann den Menschen geradezu definieren als das Tier, das etwas dabeihat. Es war eine üble Ideologie, den Menschen als nackten Affen auffassen zu wollen, denn homo sapiens ist nicht nackt, er hat stets seine ergänzenden Dinge bei sich, bei den Männern geht das vom Faustkeil bis zum Fahrradhelm, bei der Frau vom ersten Korb bis zu den Ballerinas. Ohne stoffliche Einkleidung ist der Mensch schlechterdings nicht gegeben – außer in Lehrbüchern der idealistischen Anthropologie. Der Ergänzungszwang gilt von Anfang an, und manche Frauen würden sich womöglich eher von ihrem Mann trennen als von ihrer Handtasche.
Dieser Artikel ist ein Auszug des ausführlichen Interviews „Das Ding will als Fetisch Karriere machen“, das in dem Buch No. 1 Brands – die Erfolgsgeheimnisse starker Marken erschienen ist.
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