Der Reisekonzern Thomas Cook war in Europa "First Mover", als er 2016 in vielen seiner Reisebüros Datenbrillen anbot, mit denen die Kunden ausgewählte Reiseziele im 360-Grad-Modus virtuell erleben konnten. Was sich in der der Computerspielindustrie langsam zum Standard entwickelt, kommt in der Reisebranche gerade erst zögerlich an.
Lohnt sich Virtual Reality (VR) für die Marken der Reisebranche und für ihre Markenkommunikation? Gewinnen sie dadurch an Begehrlichkeit? Oder haben jene recht, die in ihr eine Gefahr für die Reisebranche sehen, weil die Menschen bald virtuell reisen – in hochauflösender Echtheit vom Sofa aus?
Meine Einschätzung: Virtual Reality hat eine große Zukunft für das Reisen und Destinationsmarken – aber die Entwicklung wird wohl anders sein als gedacht. Ihre Zukunft könnte in der exzellenten Kombination mit der Realität liegen. Stellen Sie sich vor: Sie stehen in der verfallenen Inkastadt Machu Picchu und erleben mit einer Datenbrille diesen Inspirationsort Perus als Rekonstruktion: Das wäre eine völlig neue Qualität des Reiseerlebnisses.
Jeder wird sein eigener Regisseur
Gleichzeitig macht sich schon der Gegentrend bemerkbar: „Digital Detox" wird zu einer neuen Form der Luxusreise avancieren, während alles Digitale bewusst ausgeschlossen wird.
Die ITB in Berlin hatte schon 2016 gezeigt, dass viele Reiseanbieter die neue VR-Technologie einsetzen wollen: British Airways, Lufthansa, Thomas Cook, Lufthansa, das Land Österreich und viele andere luden auf ihren Ständen zur virtuellen Rundumsicht ein, für die Besucher nur die neuartig anmutenden Brillen aufsetzen mussten.
Die allgemeine Begründung: In wenigen Minuten könne man ein Reiseziel erleben, als wäre man schon da. Ohne Frage: Was die Vorschau und Information betrifft, bietet diese neue Art der Darstellung einen neuen Standard, der bisher nur aus 3D-Filmen bekannt war. Außerdem kann sich der Betrachter im 360-Grad-Modus dorthin bewegen, wo es ihm beliebt. Jeder wird sein eigener Regisseur.
Der Effekt, der sich danach einstellt: die Sehnsucht, das Gleiche erleben zu dürfen – von der Phantasie zur Realität. Virtual Reality wird zu einem neuen Mittel werden, das in der touristischen Inspirationspalette und im Storytelling eine wichtige Rolle spielen wird. Wie so oft wird das Entscheidende nicht das "Was und Ob" sein, sondern das "Wie und Warum".
VR erhöht nicht immer die Begehrlichkeit
Marken leben davon, ihre Begehrlichkeit zu erhöhen. Dies gelingt ihnen, wenn sie Lebensknappheiten von Menschen bedienen. Zwei der großen Lebensknappheiten der Reisebranche sind Phantasie und Sehnsucht. Die Reisevorfreude ist immer noch die schönste. Die Vorstellung, wie es sein wird, gehört zu den wunderbaren Momenten des Lebens. VR kann diese wichtigen Attraktivitätstreiber fördern – oder zerstören. Ebenso kann die Reisebranche die VR-Technologie für Angebote vor Ort einsetzen, um ihren Kunden eine neue Dimension der Vorstellungskraft zu bieten.
Neu ist ja nicht schon automatisch innovativ. Aber dieser Gefahr setzen sich Marken der Reisebranche aus, wenn sie VR nur deshalb einsetzen, weil sie Neues verspricht. Innovativ wäre hingegen, wenn diese Technologie drei Faktoren bedient:
Und: Sie darf eine Kundengewohnheit nicht zerstören, ohne diese durch eine bessere Lösung zu ersetzen.
1. VR muss die Reisesehnsucht erhöhen
Die Fehler sind schon jetzt absehbar – und sie werden jenen gleichen, als Hotels und Destinationen seinerzeit Prospekte durch Websites ersetzten, ohne diese neuen Medien in ihren neuen Eigenschaften zu verstehen. Vermutlich werden wir via VR-Brillen Informationsfilme zu sehen bekommen, mit gesprochenem Text und Hintergrundmusik. Doch wer VR richtig versteht, weiß: Sehnsucht wird nicht durch das Betrachten der Realität erzeugt. Sehnsucht erweckt das Hoffen auf den Traum. Diesen zu inszenieren, wird die große Kunst sein. Dazu braucht es eine bessere Regie und Inszenierung als bisher. VR wird einen erheblichen Einsatz von Geist und Geld kosten. Alles andere würde jedoch den Aufwand in diese neue Technologie nicht rechtfertigen.
2. VR muss Bilder erzeugen und nicht zeigen
Das Verlockende dürfte für manche Manager der Reisemarken sein: Endlich können sie ihre Destinationen deutlicher und in 360-Grad-Perspektive zeigen. Doch wenn sie mit Virtual Reality nicht mehr erreichen, dann haben sie verloren. Der eigentliche Anspruch muss sein, VR als Zugang in eine neue Dimension des Erlebens zu nutzen. Menschen kaufen das Wünschenswerte, Träume und Sehnsüchte – Marken müssen auf dieser Ebene agieren. VR kann dafür ein gutes Mittel sein — sofern sie neue Räume der Betrachtung erschließt und neue Bilder erschafft.
Eine neue Erlebnisdimension wäre zum Beispiel: Am Vulkankrater des Teide auf Teneriffa stehen, auf 3700 Metern Höhe, und mit einer VR-Brille den (eben nicht sichtbaren) Vulkanausbruch des Jahres 1909 mitzuerleben. VR hat das größte Potential im Verbinden von Realität und Virtualität.
3. VR muss zur Marke passen
"Essen wird über lange Sicht das sein, was uns im Zeitalter der immer schnelleren Digitalisierung noch mit der analogen Welt verbindet." Für den skandinavischen Starkoch René Redzepi wäre die Welt der Virtual Reality keine Option, um seiner Marke "Noma" mehr Begehrlichkeit zu verleihen. Vielmehr schloss er seinen Gourmettempel in Kopenhagen, trotz größter Nachfrage, "weil es davon schon zu viele Bilder gibt". Mit einem neuen Konzept wird er für seine Fans im Dezember 2017 in ganz anderer Lage eine neue Welt des Wünschenswerten eröffnen.
Hotels und Destinationen, die das Geheimnis und das Entdecken als Markenkern für sich beanspruchen wollen, würden ihrer Marke eher schaden als nützen, wenn sie mit VR-Brillen und 360-Grad-Filmen über ihr Angebot informierten. Wer sein Geheimnis im Vorfeld lüftet, verliert an Spannung und opfert seine Attraktivität vermeintlicher Innovation.
Was kommt, wenn alles digitalisiert ist? Keine andere Branche hat auf diese Frage bessere Antworten als die Reisebranche. Wenn alles digitalisiert ist und wir Digitalität von der Welt nicht mehr unterscheiden können, weil sie die Welt ist: dann kommt wieder die Reise als reale Erfahrung anderer Welten ins Spiel. Diese muss man riechen und hautnah spüren – und man muss von ihr lange Geschichten erzählen können. Offline-Reisen werden zu einer neuen Reisekategorie werden.
Dieser Artikel erschien auch in der absatzwirtschaft: Das zweischneidige Schwert von Virtual Reality für die Reisemarken
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