Kein Zweifel, unsere Märkte verändern sich fundamental. In Zukunft brauchen die Menschen keine zentralen Mittler und Organisatoren mehr, etwa Banken, Versicherungen, Handelsorganisationen und Medien. Sie benötigen nur noch Plattformen, die Vertrauen organisieren, die Rahmenbedingungen festlegen und sich ansonsten aus dem Interaktionsgeschehen heraushalten. Das Prinzip des „One to Many" weicht dem „All to All".
Wie gelingt Unternehmen dieser Wandel, worauf müssen sie sich einstellen? Um klarer zu sehen, hilft ein kurzer Blick in die Vergangenheit:
Über Jahrtausende hinweg bestimmte zunächst das Angebot den Markt. Die Mangelwirtschaft war – bis auf wenige Ausnahmen – für alle Menschen die Regel. Was produziert werden konnte, verkaufte sich in dieser Zeit quasi von selbst.
Dieses Wirtschaftsmodell änderte sich erst mit der Industrialisierung: Durch die serielle und skalierbare Fertigung gab es erstmals mehr Produkte als Nachfrage. Quantensprünge in Forschung und Entwicklung initiierten ein bisher unbekanntes Innovationstempo. Immer neue Produkte gingen mit der Entwicklung immer neuer Fertigungstechniken und Maschinen Hand in Hand. Das Denken der „Fabrikanten" war beherrscht von den Möglichkeiten – nicht aber von den Notwendigkeiten.
Nach den großen Kriegen entstanden erstmals gesättigte Märkte. Man musste feiner vorgehen, um sich Geschäftschancen zu erarbeiten. Man entdeckte den Kunden, das bis dahin unbekannte Wesen.
Die Massenmedien funktionierten nach dem Sender-Empfänger-Modell
Mit Gallup entstand der erste große Marktforscher in den USA. Auch das Marketing mit all seinen Derivaten wie Werbung wurde begründet. Jedoch stand immer noch nicht der Kunde im Mittelpunkt der Anstrengungen, sondern abstrakte, hochverdichtete Zielgruppen, Motive und Bedürfnisse. Man befand sich im Massenmarkt, der durch eine Vielzahl neuer Medienkanäle (TV, später Internet) erschlossen wurde. Das Zeitalter der Massenmedien war geboren.
Neben ein wenig Demografie (Alter und Einkommen) war die Reichweite das bestimmende Erfolgskriterium, überregionale Bekanntheit die dazugehörige Währung. Das Denken wurde beherrscht durch das Sender-Empfänger-Modell. Einer sendet, nachdem er sich über seine Zielgruppe und eine bestmögliche Annährung an deren Bedürfnis- und Empfindungsstruktur schlau gemacht hat. Die andere Seite empfing und reagierte – durch Kauf oder Verweigerung.
Die „Phase der Aufdringlichkeit" ist heute noch spürbar
Ähnlich phasenhaft verlief die bisherige Evolution durch Digitalisierung. Mitte der 90er-Jahre wurde das aufkommende Internet einfach als weiterer Sendekanal betrachtet. Unternehmen setzten ihn wie ihre etablierten Kanäle ein, etwa Radio und TV: zur Beschallung vorab genauestens definierter Marktsegmente.
Die unvermeidliche Bannerwerbung und Einspielfilme – dort, wo sie weder erwartet noch gebraucht werden – zeugen noch heute von dieser „Phase der Aufdringlichkeit". Das technologisch Machbare beherrschte das Geschehen, die Empfängerbedürfnisse waren untergeordnet.
In der 2. Generation, mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke, wurden Empfänger zugleich zu Sendern: Sie gaben nun ungefragt, ungesteuert und nicht vorselektiert Feedback, entwickelten eigene Botschaften und verbreiteten sie. Durch die Dominanz der Software und die Entwicklung intuitiver Bedienungsmethoden wie Touch- und Gestensteuerung verloren die Technologien ihre Vorherrschaft.
Nun steht das Individuum im Mittelpunkt – nicht das Angebot
Nun, in der 3. Evolutionsstufe, verschwinden die Technologien aus der Wahrnehmung. Sie integrieren sich in die Lebenswelt und gestalten unbemerkt den Alltag. Aus off- und online wird „noline". Aus Zentralität wird Dezentralität.
Die Menschen brauchen keine zentralen Mittler und Organisatoren mehr. Nun steht das Individuum im Mittelpunkt allen Strebens – nicht das Angebot, nicht die Finessen der Produktion, nicht der Kanal oder das kreative Marketing, sondern der einzelne Mensch, mit all seinen Widersprüchlichkeiten, Sehnsüchten, Ängsten und Hoffnungen. Nicht „One to Many", sondern „All to All" ist der entscheidende Unterschied in der Interaktion zwischen Verkäufer und Käufer.
Das bedeutet: Der häufig geforderte Customer-Centricity-Ansatz greift zu kurz, denn er unterstellt, wie gehabt, das Sender-Empfänger-Modell. (Nur mit dem Unterschied, dass der Sender den Empfänger mehr in den Mittelpunkt seines Bemühens stellt.)
Entscheidend für den Erfolg wird die maximale Kundennähe sein, unter vollständiger Ausnutzung technologischer Entwicklungen wie KI und Blockchain sowie der Offline-Nähe durch Empathie, Tiefe, Mitgefühl, Romantik und Unterstützung. Im Age of You wird das Ziel verfolgt, mit dem Kunden eins zu werden. Sender und Empfänger verschmelzen zu einer Einheit – so wie die digitale mit der realen Welt.
Herausfordernd: Menschen werden erfahrener und der Wettbewerb schlauer
Wie aber entsteht Differenzierung, Abgrenzung und Attraktivität, wenn jeder Anbieter über die perfekte Technologie verfügt, jeder seine Kunden dank Datenanalyse besser kennt als jemals zuvor und jeder mit der gleichen Einfachheit und Schnelligkeit deren Wünsche befriedigen kann?
Es wird derjenige gewinnen, der all dieses Wissen besser als andere zu einer Essenz verdichtet, diese mit starken Assoziationen koppelt und überall und stets abrufbereit zur Verfügung stellt. Wenn dies auch noch glaubwürdig, attraktiv und differenzierend geschieht, sind wir wieder bei dem einzigen System angelangt, das es fast so lange gibt wie der Mensch Wirtschaft betreibt: bei der Marke.
Nur gut gemanagte Markensysteme sind – unabhängig von technologischen und disruptiven Entwicklungen – in der Lage, entscheidende Leistungen, Werte, Haltungen, Verdienste und Absichten so zu verdichten und zu speichern, dass sie Sinn und Bedeutung erlangen. Und so den entscheidenden Unterschied markieren.
Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt uns: Jede Transformation begann mit wenigen, starken Oligopolen oder gar Monopolen, die im Zuge ihrer Reifung nach und nach in Segmente zerfielen. So war es im Osthandel, in dem die Venezianer ein Monopol hatten. So geschah es bei den Medici und ihren Banken in Florenz, den Fuggern in Augsburg und den Patriziern in Nürnberg.
Dies setzte sich fort über Eisenbahngesellschaften, Ölfirmen wie Standard Oil, Telefonmonopolen (AT & T) und Softwaremonopolen (Microsoft): Immer wurde eine starke Zentralisierung, die zu Beginn vorherrschte, durch eine dezentrale Entwicklung abgelöst.
So wird es wohl auch bei den derzeitigen Oligopolen sein – GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) in der westlichen und BAT (Baidu, Alibaba, Tencent) in der östlichen Hemisphäre. Die Menschen werden erfahrener, die Regulatoren wacher und der Wettbewerb schlauer. Alle zusammen nagen an den großen Monolithen unserer Zeit.
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Klaus-Dieter Koch
Managing Partner
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