Noch im hohen Alter schaffte Karl Lagerfeld, einer der bedeutendsten Designer unserer Zeit, das Unmögliche: zu überraschen. Regelmäßig überwältigte er die verwöhnten Fashionistas dieser Welt mit seinen aufwändig inszenierten Chanel-Shows. Und das über 35 Jahre!
Wie schaffte es der Kreativdirektor, die Marke Chanel über Jahrzehnte als „Star Brand" zu positionieren, ohne ihre Attraktivität zu gefährden und immer wieder mit neuer Markenenergie aufzuladen?
Gabrielle „Coco" Chanel, die Gründerin der Luxusmarke Chanel (1883 – 1971), war ihrer Zeit weit voraus: Sie revolutionierte die Modewelt, indem sie Produkte für die Ewigkeit schuf. Der Emanzipation gab sie dank ihrer Mode einen wichtigen Anstoß. Ihre Kreationen zeichneten sich durch elegante Schlichtheit sowie praktische Schnitte aus, sie entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte zu „Iconic products". Coco Chanel führte das „kleine Schwarze" zu unsterblichem Weltruhm, genauso wie die Klassiker Chanel No. 5 oder die Flap Bag 2.55.
Coco Chanels modische Intention war, die Frauen ihrer Zeit physisch, psychisch und gesellschaftlich zu befreien – aus den eng geschnürten Korsetten, den Unmengen an Stoff der Belle Époque und vor allem aus den festgezurrten Idealen des weiblichen Erscheinungsbilds.
Als Karl Lagerfeld 1982 bei Chanel einstieg, blieb er diesem Erbe treu. Statt die Marke auszuweiden und als Bühne eigener Kreationen zu nutzen, bereicherte Karl die Marke, indem er ihren typisch schlicht-französischen Stil fortführte. Noch heute verkörpert die Marke das, was Coco Chanel legendär gemacht hat: Leidenschaft, Unkonventionalität und Einzigartigkeit.
„Karl", wie Lagerfeld in der Szene einfach genannt wird, verwirklichte sich künstlerisch ausschließlich in den Grenzen der Marke Chanel und ehrte damit ihre Historie und Herkunft. So widmete er das Jahr 2017 der weiblichen Rebellion und führte zurück auf alte Spuren. Seine Métiers d'Arts und seine Hauptkollektionen zeigen die starke Verwobenheit der Marke mit dem Designer – der Markenfit zwischen ihm und Chanel nimmt praktisch symbiotische Formen an.
Als einer der ersten Luxusmarken erkannte Chanel vor mehr als zehn Jahren, welche Vorteile das Verknüpfen analoger und digitaler Kommunikationsmedien hat. Sie beweist damit Mut und taktgebendes Denken. Auf allen Plattformen (außer Facebook) nutzt Chanel die erarbeitete Vormachtstellung als führende Luxusmarke, um die Fangemeinde weiter in den Bann der Marke zu ziehen. Dabei unterwirft sich Chanel nicht jedem Kundenwunsch, sondern signalisiert Autorität und Dominanz.
So überdauern die Designs der Marke die hektischen Modetrends dieser Zeit. Karl verschloss sich dem Zeitgeist nicht, entschied sich aber zu führen, nicht zu folgen. So begibt er sich nicht in Richtung Streetwear und Athleisure Chic wie Louis Vuitton. Auf der Pariser Fashion Week addierte er seinen Daunenjacken eine zeitgenössische Eleganz - ganz im Chanel-Flair.
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Lagerfelds unbeugsame Haltung zeigt sich auch im Markenstil. Während Burberry kürzlich seinen Logoauftritt grundlegend überholte, nutzt Chanel das, was die Menschen seit langem in ihrem Gedächtnis gespeichert haben.
Darum ist das markante Signet von Chanel seit jeher unverändert. Mit der strikten Durchsetzung der rückseitig aufeinander gelegten C und der konstanten Verwendung der Farben schwarz und weiß beweist Chanel enorme Stildichte. Gleichzeitig lotete der Modezar die Grenzen der Marke aus: „Using nearly nothing what Chanel is known for and still make it look Chanel."
Die Codes der Marke sind weithin gelernt. Darum können sie neuartig inszeniert oder auch nur partiell verwendet werden – sofort wird die Assoziation zur Marke hergestellt. Auf diese Weise fräst Lagerfeld eine unverwechselbare Kante in die Marke, ohne die Konsistenz der Marke zu gefährden.
Frühzeitig verstand Lagerfeld – lange bevor das Modewort „Storytelling" die Marketingbücher stürmte –, dass eine Marke die Beziehung zu den Kunden mühsam über eine lange Zeit aufbauen muss. Das Storytelling erhöht die Schnelligkeit dieses Aufbaus, weil die Marke nicht nur eine rationale, sondern vor allem eine emotionale Persuasion erwirken kann.
Diesen Beziehungsaufbau vollzieht Chanel geschickt: Auf der Website wird der Kunde unter „Inside Chanel" in 24 Kapiteln eingeladen, den Nukleus der Marke zu erforschen. Das starke Narrativ findet sich auf digitalen Kanälen wie Facebook oder Instagram wieder.
Das gilt auch analog: Chanel richtete den Flagstip-Store in Paris so ein, wie Gründerin Coco heute vermutlich ihr Wohnzimmer eingerichtet hätte. Damit schafft die Marke nicht nur eine „auratische" Verbindung zu ihren Kunden – die Beziehung wird anthropomorphisiert.
Konsequent transportierte Lagerfeld das Vermächtnis der Marke Chanel. Auch an analogen Kontaktpunkten wie seinen sagenumwobenen Schauen pausiert die Narration nicht, sondern wird ohne Interruption fortgeführt. Chanel lässt in der Verkettung der Online- und Offline-Kontaktpunkte keine Widersprüche zu. Während der gesamten Customer Journey spürt jeder Kunde die mondäne Autorität der Marke, die mit geschickt eingesetzten Reminiszenzen sein Erlebnis überhöht. Gespickt mit „Magic Moments of Truth" und „Wow-Effekten" zurrte Karl die Kunden-Marke-Beziehung fester und fester – sei es im magischen Wald, in der Arktis oder im Weltraum.
Natürlich beschäftigt die Modeszene folgender Fakt: Wird seine Nachfolgerin Virginie Viard ebenso verstehen, das Erbe Chanels immer wieder neu zu inszenieren – ohne die Marke zu beschädigen oder grundlegend zu verändern? Wird die Marke Chanel ihre Strahlkraft und Einzigartigkeit beibehalten können? Ich bin gespannt.
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Dr. Judith Scholz
Partner
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